Montag, Juni 29, 2009

Libelle

Es landete eine Libelle neben mir auf einem violetten Blütenblatt, das auf einem kleinen Ast, der sich aus dem sonst Grasboden herausreckte, baumelte. Ich bemerkte sie zunächst gar nicht. Sie saß einfach da und drehte ihren Kopf mit den rießigen Facettenaugen in die eine und dann in die andere Richtung. Sie beobachtete wohl ihre Umgebung und als ich mich schließlich von meiner Liegeposition aufsetzte, schreckte sie nicht eilig hoch, sondern blieb ruhig sitzen und lies sich anschauen. Die Libelle war gelb, über ihren langen, spitzen Hinterleib zogen gelbe Streifen, ihre Flügel zeigten seitlich von ihrem Körper weg. Mir kam der Gedanke, dass sie wohl nur warten würde, bis ich ihr einen Wunsch ins Ohr geflüstert habe, wobei ich aber nicht weiß, ob Libellen Ohren haben, wohl aber Augen, mit denen sie in die hintersten Winkel der verschlungenen Seelenpfade blicken können, dachte ich mir.
Was aber sollte ich mir wünschen? Geld, mehr Liebe, ein spannenderes Leben, Freiheit, Inspiration? Ein ganz anderes Leben?
Aber dann würden die Besonderheiten meines jetzigen Lebens auch verschwinden, auch die Vergangenheit würde sich umschreiben müssen. Ist das Jetzt nicht eine in sich richtige Sache, die keiner Intervention von außen bedarf? Soll mein Sehnen allein das Leben etwa besser machen und was würde besser überhaupt heißen?
Ich konnte mich also nicht für einen Wunsch entscheiden. Ich konnte mich gar nicht entscheiden und verharrte über dieser unlösbaren Aufgabe – es muss für die geduldige Libelle ausgesehen haben, wie ein in zu viele Rechenaufgaben verstrickter Computer, der nicht mehr reagiert, nicht surrt oder klappert – aber sie war geduldig, blieb sitzen und schien es nicht sonderlich eilig zu haben.
Ihre beiden Greifarme hingen locker herab und wer weiß, worauf sie in Wahrheit ihre Aufmerksamkeit richtete. Kleine schwarze, starre Punkte waren hinter der milchigen Oberfläche ihrer Augen zu erkennen. Wie sieht wohl das Libellenbewusstsein aus? Das Leben der Libelle und ihre Sehnsüchte und Ängste. Vielleicht aber – so frage ich mich jetzt – habe ich die Situation in meiner grenzenlosen Ichbezogenheit völlig verkannt. Vielleicht war ich es, der zu taub war für die Wünsche und Bitten der Libelle. Vielleicht sind meine Sinne schon so verschüttet, dass ich das leise Lispeln der Libelle völlig überhört habe, vielleicht bin ich so wie all die anderen Milliarden Menschen schon viel zu zugeschüttet mit Lärm und Unrat, dass ich nicht mehr zwischen den Zeilen, zwischen den Momenten der Bewegung die Ruhe, im Schweigen die Botschaft erkennen kann. Vielleicht habe ich es verpasst, weil ich mit mir selbst und meinem lauten Denken viel taub bin. Wer weiß, was diese Libelle mir sagen wollte, mitteilen wollte, auch wenn ihr die Worte dazu fehlen? So sind wir schweigend nebeneinander gesessen und hätten auch einfach nichts sagen und denken können, sondern wir hätten auch einfach nur sitzen können und dabei versuchen, den Moment zu genießen. Ohne Sehnsucht.