Sonntag, Juli 20, 2008

Hinter dem Vorhang

eine Kurzgeschichte...

I.

Ich ahnte nichts von den bevorstehenden Veränderungen in meinem Leben, als ich an diesem einen, bestimmten Sonntag auf die Straße trat. Das heißt, nichts sollte sich seiner Form nach verändern – aber um es anders zu sagen: Manchmal durchschreitet man gewisse Türen und betritt damit neue Räume, ohne dass man es bemerkt.

Die Straßen waren menschenleer. Ich schlenderte vor mich hin, vorbei an geschlossenen Kaffeehäusern, geschlossenen Restaurants, geschlossenen Geschäften und gelb blinkenden Verkehrsampeln und genoss die Ruhe unter der warmen Frühlingssonne. Ein paar Krähen stritten sich um eine fallengelassene Wurstsemmel. Weiter weg war das Aufprallen eines Fußballes zu hören. Ich spazierte also stundenlang durch die Straßen und gewiss wäre ich früher oder später wieder nach Hause gegangen, aus dem einen oder anderen Grund, vielleicht weil ich müde geworden oder mit meiner Freundin Helena verabredet gewesen wäre. Ja, ich wäre sicher heimgekehrt, wenn ich nicht an jenem seltsamen Ort vorbeigekommen wäre…

Es war ein altes, halbverfallenes, einst sicher prunkvolles Haus in einer scheinbar ausgestorbenen Wohngegend. Der Verputz bröckelte von den Wänden, die Fenster waren verstaubt und beschlagen. Das Tor war massiv, groß und schien ohne Restauration seit vielen Jahrzehnten der Witterung und den Schadstoffen einer modernen Großstadt zu trotzen.

Ich hörte ein Lachen, aus dem leicht geöffneten Tor dringen. Das heißt, ich glaube, ich habe ein Lachen gehört. Vielleicht handelte es sich aber nur um eine Einbildung. Die neckische Art der Stimme interessierte mich. Vorsichtig blickte ich durch das Tor. Der Innenhof war verwahrlost und von Gestrüpp überwuchert. Da niemand zu sehen war, trat ich hinein und folgte der Stimme, die offenbar aus dem Haus gekommen war. Ich ging durch eine offene Holztür und weiter durch Gänge und Stiegen, die ich immer eiliger durchkreuzte.

Plötzlich stand ich in einem Bühnenraum. Vor mir im Dunkeln lagen die Reihen leerer Zuschauer-Sitze. Die Bühne selbst war beleuchtet. Eine hell geschminkte Frau tanzte und hielt ein Seil in der Hand, mit dem sie zugleich einen Mann in ein unentwirrbares Netz spannte, in dem sie bald beide gefangen waren.

Der Mann sagte mit schwärmender Stimme: "So eine laue Nacht...stell dir vor....du sitzt am Balkon....die Grillen zirpen, irgendwo hörst du die ruhige Stimme eines Nachrichtensprechers. Der redet von Korruption und Autounfällen. Du hörst aber gar nicht hin. Ganz heiß ist dir in deinem Sommerkleid. Deine Schenkel ganz heiß, dein Atem ist unruhig und schwer, nicht wahr? Und der Mann im Radio, der sagt plötzlich nichts mehr über die Unfälle. Der redet über den Verkehr. Ja, über den Verkehr und die Verkehrsknoten und über die Kompliziertheiten der Liebe und er sagt: Du kommst nicht mehr los von mir....denn wir sind miteinander ver..."

Und die Frau sagt: "Verknotet!“

Und der Mann fährt fort: "Und weißt du, warum das passiert, selbst wenn du es nicht wolltest? Weil da ein kleiner verspielter Kobold zwischen den Menschen herumgeistert. Und der, der hat einen Faden. Das ist der Faden des Schicksals. Mit dem bindet er die Fäden zwischen den Menschen, und ist der einmal gesponnen, ist die ganze Geschichte geschrieben...."

Und wieder die Frau: „Und der Rest ist dann schon geschrieben. Bis ans Ende. Wie dieses Theaterstück.“

Der Mann und die Frau waren mittlerweile völlig ineinander verwoben, hielten einander fest, schauten sich in die Augen. Schließlich lösten sie sich wieder voneinander, räumten die Bühne frei, zogen den Vorhang zu und verschwanden. Ich verhielt mich still und wartete ab, ob sie wiederkommen würden. Der rote Vorhang wellte sich wie erstarrte Wogen des Meeres. Neugierig erhob ich mich und ging nach vor. Ich fühlte den weichen Stoff, fühlte, wie er ganz leicht nachgab, sich drücken ließ. Ich roch das Holz der Bodenplatten, die staubige Luft uralter Menscheitsträume. Wie zufällig ließ sich der Vorhang beiseite schieben und gab mir den Blick auf die Schwärze dahinter frei. Der rote Samtvorhang, die schwarze Ewigkeit, der Duft von Epen - mit einem kleinen, unvorsichtigen Schritt war ich darin verschwunden.

II.

Es war stockfinster und still. Ich tastete mich Stück für Stück vorwärts. Plötzlich hörte ich Schritte über mir. Da war jemand. Ich hielt den Atem an. Dann war ein lautes Plumpsen unmittelbar vor mir zu hören. Ich räusperte mich, stotterte „Hallo?“. Keine Antwort. In der Jacke hatte ich Zündhölzer. Ich machte Licht. Da starrte ich in die toten Augen eines Mannes. Eine Blutspur zog sich über sein Gesicht. Eine Blutlache breitete sich langsam unter meinen Füßen aus. Der Mann muss von irgendwo über mir heruntergestürzt sein. Möglicherweise absichtlich. Ich wollte sofort umkehren und Hilfe holen. In dem Moment ging ein Licht oberhalb der Bühne an Auf einem Geländer über mir schlenderte ein Mann in blauer Arbeitskleidung. Sein Blick fiel sofort auf die frische Leiche, dann auf mich.

„Ah…“ seufzte er, wenig überrascht. „Und sie?“

“Ich? Ich, äh, ich habe...der Vorhang...“.

Der Mann: „Sie haben hinter den Vorhang geschaut?“

„Ja...ich hab nur etwas Fallen gehört...“

„Verstehe.“

Wir starrten beide auf die Leiche.

Mit „Er ist tot.“, kommentierte ich unbeholfen das Offensichtliche.

„Mhm.“

Langsam, routiniert, bewegte sich der Arbeiter zu einem Wandkasten, öffnete ihn, und hielt einen Telefonhörer in der Hand.

„Ja...ihr könnt gleich noch mal kommen. Ja. Schon wieder.“

Er legte den Hörer auf. Um die eisige Stille und meine Nervosität zu brechen, fragte ich: „Und jetzt?“

„Jetzt kommt er raus.“

Er war inzwischen über eine Leiter auf die Bühne herabgeklettert, besah den Leichnam. Ich versuchte pflichtbewusst und unverdächtig zu sein, fragte also weiter: „Sollte man nicht die Polizei rufen?“

Der Mann sah mich entgeistert an und sagte dann belustigt „Nein…Nein.“

Zwei weitere Arbeiter betraten den Bühnenraum. Wortlos, unüberrascht und mit einer verdächtigen Routine räumten sie den Leichnam weg.

Ich hätte gerne etwas über den Toten und die in diesem Haus offensichtliche Alltäglichkeit solcher Begebenheiten erfahren, wagte es aber nicht, zu sprechen. Möglicherweise hatte ich es hier mit Kriminellen zu tun. Als sie den Leichnam durch eine Tür zerrten, fragte ich noch schnell: „Eine Frage. Ist vorne noch offen?“ wollte ich wissen.

„Hä?“

„Na, komm ich vorne beim Vorhang wieder in den Hof raus?“

Einer von ihnen lachte beiläufig. „Keiner kommt hier lebend raus, Kleiner.“

Sie drehten das Licht ab, verließen den Bühnenraum und ich stand wieder etwas ratlos im Dunkeln. Mit Hilfe meiner Streichhölzer versuchte ich durch die Dunkelheit zu dem Vorhang zurück zu gelangen und schnellstens zur Polizei zu gehen. Aber ich fand ihn nicht mehr. Die Streichhölzer gingen mir bald aus und ich fluchte wütend vor mich hin. Irgendwann ertasteten meine Hände eine Türklinke. Ich betrat ein Gang, sah weitere Türen. Und dahinter wieder Türen und wieder Gänge und Türen. Auch die Fenster führten nur in enge Lichtschächte, die sich nach oben hin, oder in der Tiefe verloren. Zunächst noch hoffnungsfroh und mir meiner baldigen Rettung sicher, wurde ich bald ungeduldig und nervös. Schließlich rannte ich panisch durch die Gänge und Stiegen, bis ich mich hoffnungslos verirrt hatte. Es war völlig still. Nur dieser Satz: „Keiner kommt hier lebend raus.“ schwirrte wie ein Schmetterling durch meinen Kopf.

III.

Irgendwann später. Ich saß am Steinboden. Meine Füße schmerzten, mir war kalt. Ich wollte zurück in mein normales, unerreichbares Leben und versuchte mir darüber klar zu werden, wie es ein Theater geben konnte, aus dem es keinen Ausgang gab und genauso wenig Menschen - außer Selbstmördern, Schauspielern und Irren.

Nach einer Weile bemerkte ich einen Luftzug beim Spalt einer schweren Holztür. Es war eine Mischung aus Frischluft und kaltem Zigarettenrauch. Ich erhob mich, öffnete die Tür. Eine Wendeltreppe zwirbelte sich nach oben. Ich ging die ersten Stufen noch langsam und vorsichtig, bald schneller. Weiter und weiter. Schließlich stolperte ich in eine karge, mit Büchern und Manuskripten überfüllte Kammer. Ein Mann saß an einem Tisch und deutete mir, ohne aufzublicken, sogleich zu schweigen. Er schrieb etwas auf ein Papier. Auf seinem Schreibtisch standen eine Flasche mit grünblauer Flüssigkeit, von der er gelegentlich einen Schluck nahm, ein übervoller Aschenbecher und eine kleine Tischlampe.

„Haben sie manchmal Angst vor der Unvorhersehbarkeit des Lebens?“ fragte er.

„...anders ausgedrückt: Ist das Leben nicht immer lebensgefährlich?”

Ich schwieg, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.

„Ich schreibe gegen diese Unsicherheit, verstehen sie? Fiktion ist Hingabe an eine Realität, in der einem nichts passieren kann. Sicherheit. Egal was passiert, für die Dauer der Geschichte sind wir sicher vor den Umtrieben des Daseins. In Wahrheit kennen wir das, was wesentlich am Ende der Geschichte ist, ohnehin. Es ist der Tod, das Sterben, es sind die Knochen und Gerippe, die von einem überbleiben, wenn man nicht gerade im Flammenmeer eines atomaren Krieges verbrennt.“

Er blickte mich mit seinen verschwommenen Augen an, dann widmete er sich wieder seinem halbbeschriebenen Blatt.

„Wo geht’s hier denn raus?“ fragte ich unsicher.

„Keiner kommt hier lebend raus.“ Sagte er kurz und unwillig.

Ohne diese Aussage näher diskutieren zu wollen, verließ ich die Kammer des Dichters.

Über die Wendeltreppe stapfte ich hinab. Nach einer neuerlichen, endlosen Irrreise durch die Gänge und Stiegen und leeren Räume des Theaters landete ich schließlich in einem kleinen Zimmer, in dem sich nichts außer einem Bett und einem Schminktisch befand. Erschöpft und entmutigt ließ ich mich hineinfallen.

Ich musste an die Frau mit dem Seil denken, die ich auf der Bühne gesehen hatte. Sie tanzte vor mir auf und ab. Ich war in ihr Netz eingesponnen, röchelte bereits und war dem Ersticken nahe, aber durch ihren Tanz wurde ich zugleich am Leben gehalten. Sie erzählte mir mit freundlicher Stimme von Verkehrsfunksprechern und Knoten und Schicksal. Langsam sank ich in den Schlaf hinüber.

IV.

Nacht. Es klopft an meiner Türe. Verschlafen setze ich mich auf. Wer ist das? Ich öffne die Zimmertür. Ein Mann steht da. Unscheinbar. Leerer Blick.

„Ich bin´s.“ sagt der Mann, „Der Tod.“

„Ah ja.“ Mittlerweile wundert mich nichts mehr.

Er sagt „Schau, es ist Folgendes: Wenn du willst, nehm´ ich dich jetzt gleich mit. Es ist kein Problem. Keine Schmerzen, keine Trauer, kein Drama, kein Umherirren mehr. Du kommst einfach mit.“

Seine Stimme klang völlig ausdruckslos und gleichgültig.

„Du kommst in den Seelenspeicher und die ganze Angelegenheit ist beendet. Keiner ist dir böse, du bist einfach weg und nie gewesen.“

Er machte eine Pause.

„Aber…“ fuhr er fort, „…wenn du jetzt nicht mitkommst, komm ich erst in etwa achtzig Jahren wieder.“

Was für ein Angebot? Ich überlege kurz. Wer weiß, was ich alles versäumen würde? Nie würde ich herausfinden, ob es einen Ausgang aus diesem Theater gibt. Nie wieder die Menschen sehen, die ich liebe, nie wieder Freude empfinden. Andererseits, 80 Jahre hier gefangen bleiben. „Na gut.“ sagt Tod, „du kannst dich nicht entscheiden. Vielleicht komme ich später wieder.“ Er geht.

V.

Als ich wieder erwachte, stellte ich fest, dass Tod mich nicht geholt hatte. Ich fragte mich, ob mich jemand in der anderen, der normalen Welt, bereits vermisste und ob ich darauf hoffen sollte, dass Helena die Polizei alarmieren würde. Vielleicht würde man mich mit Hilfe von Spürhunden finden. Dann würde man die Betreiber oder den Direktor dieses Theaters zur Rechenschaft ziehen, nicht zuletzt wegen des vertuschten Selbstmordes, wenn es überhaupt ein Selbstmord war. Doch intuitiv wusste ich bereits, dass es hier in diesem Theater, aus dem niemand lebend herauskommt, um etwas ging, das nichts mit der banalen Direktorenproblematik zu tun hatte.

Ich wollte gerade den Raum verlassen, als ein junges Mädchen hereinkam. Sie war wenig überrascht mich zu sehen.

„Hallo.“ sagte sie.

Ich grüßte zurück. Sie trug einen schwarzen Rock. Ihr dunkelblondes Haar fiel bis zu den Schultern. Sie hatte fast bernsteinfarbene Augen und klare Gesichtszüge. Ihre Haut war hell und die Arme so dünn, dass man meinen könnte, sie würden bei einer Berührung zerbrechen. Während sie ungeniert begann, ihr schwarzes Kleid auszuziehen und in ein anderes, festlicheres hineinschlüpfte, säuselte sie eine Melodie.

„Heute Abend wird ein Neues Stück aufgeführt.“ sagte sie. „Ich glaube, es wird ein Erfolg.“

Wovon es handelte, wollte ich wissen.

Sie meinte „Wie immer um die Liebe und den bösen Zauberer, der die Prinzessin nicht freigibt.“

„Ach ja“, sagte ich, Wissen vortäuschend. Offensichtlich war das Mädchen genau so irre, wie der Schriftsteller. Ich fragte erst gar nicht nach einem Ausweg.

„Spielst du etwa nicht mit?“ fragte sie.

Nein, ich spielte nicht mit, meinte ich. Ich sei neu hier.

„Achso. NEU-GIERIG gewesen.“ Sie kam zu mir, streichelte mir die Wange und bekam plötzlich einen sehr ernsten Gesichtsausdruck, als würde sie mir etwas ungeheuer Wichtiges sagen wollen. „Man kann jede Rolle spielen, die man will. Manche natürlich beherrscht man besser.“

Sie schlüpfte in ihr Kleid, und fragte mich bestimmend: „Gehen wir zur Probe?“

Dann ergriff sie meine Hand und wir gingen in einem Probenraum. Dort warteten schon andere Schauspieler. Jeder hatte einen Text in der Hand. Eine ältere Frau gab mir auch eine Rolle, und zwar die des Himmelreiters. Wir spielten die Szene öfter durch. Ich hatte zunächst Bedenken, mich gehen zu lassen. Die Schauspielerei lag mir nicht und ich hege bis heute eine gewisse Abneigung gegen Schauspieler. Doch im Lauf der folgenden Stunden hörte ich auf, mich über die Welt und ihre Erscheinungen zu wundern. Eine Art von Zugehörigkeit zu den Menschen hier ergriff mich. Sie waren mir zwar fremd, aber zugleich mochte ich sie.

Schließlich kam ich auf eine Idee. Die Aufführung musste ja vor einem Publikum passieren. Vielleicht würde es eine Möglichkeit geben, sich im Zuge dessen aus dem Theater ohne Ausgang zu schummeln. Oder ich könnte die Leute um Hilfe bitten. Jedenfalls würde ich das seltsame Schauspiel nicht unkommentiert vorbeigehen lassen. Insgeheim malte ich mir aus, wie ich schon bald die Story vom vertuschten Selbstmord in dem Theater des Wahnsinns an eine der vielen tagesaktuellen Illustrierten verkaufen und damit reich würde.


VI.

Die Aufführung am Abend fand in einem großen, barocken Saal statt, über dem sich eine mächtige Glaskuppel wölbte, durch die hindurch das ganze Stück im nackten Mondlicht, welches direkt hereinfiel, vorgetragen wurde. Die Zuschauer lauschten angespannt und aufmerksam.

Am Rande der Bühne wartete ich auf meinen Monolog, wild entschlossen meine Chance auf Rettung nicht zu verpassen. Schließlich stand ich allein auf der Bühne. Die Blicke des Publikums ruhten auf mir, sie hörten mir zu. Ich hatte sie vollkommen gefangen. Plötzlich hörte ich einfach auf zu reden. Ein langer Moment der Stille legte sich über den Saal. Jetzt war der Zeitpunkt für die Wahrheit gekommen.

„Das ist ein Gefängnis!“ schrie ich. „Vergesst das Theaterspiel. Keiner kommt hier lebend raus! Geht nach Hause! Geht heim! Nehmt mich mit. Rettet euch.“

Ich fand nicht die richtigen Worte, sagte noch einmal „Keiner kommt hier lebend raus! Es ist alles eine Lüge!“ Mir wurde schnell klar, dass mich niemand verstand. Die Leute blieben neugierig sitzen. Ich sprang von der Bühne und lief an den Zuschauern vorbei zur Saaltüre und hinaus. Vor mir war ein Stiegenabgang. Ich eilte hinunter, wieder durch Gänge, Türen, Räume und wieder Gänge. Das führte aber nur dazu, dass ich unversehens und unfreiwillig wieder auf die Bühne kam und die Prinzessin freudig erstrahlte, als sie mich sah und meinte „Dein Auftritt war fantastisch!“.


VII.

Es gab im Anschluss ein Fest. Hunderte Menschen waren anwesend. Viele waren elegant gekleidet, andere in Kostümen. Es herrschte eine prächtige Stimmung. Einige Musiker gaben mit ihren dröhnenden Blechinstrumenten wilde Tanznummern zum Besten. Ich trank kräftig Wein. Meine verschwiegene, innere Leere und meine Verzweiflung mussten doch ausgefüllt werden. Bald schon waren Gäste und Schauspieler vermengt, angeregt, lebendig.

Ich stand schließlich an einer Theke. Ein großer Bottich mit einer blaugrünen Flüssigkeit ruhte vor mir. Ich weiß nicht, was genau in dem Getränk war, aber jemand flüsterte mir zu, dass es sich bei der Erstellung des Getränkes um einen geheimen Ritus handelte. „Der Bauer muss an einem bestimmten Tag vor Vollmond eine Smaragdeidechse in seinem Weingarten fangen und sie bei lebendigem Leib in die Bouteille stopfen. Im Todeskampf gibt sie bestimmte Gifte von sich, die auf das menschliche Nervensystem eine zutiefst bedeutsame Wirkung haben.“ Kichernd verschwand der Jemand, den zu sehen ich ohnehin schon nicht mehr imstande war. Ich schlitterte einfach weiter und weiter in die Wirren und Kanalisationen dieses Festes und seiner Gesellschaft.

Eine brodelnde Suppe aus verwischten Momenten und untergehenden Frachtschiffen, Pfeile glitzernder Botschaften, so viele Augen, so viele Körper, soviel Feuer, viel Feuer. Eine Frau tanzte Ballett. Die Prinzessin sah ich am Schoß eines älteren Mannes sitzen, mit ihren engelhaften Augen blinzelte sie zu mir, während der Mann langsam seine klumpigen Hände über ihre Beine rieb. Alles schien zu zerrinnen und in sich zu wachsen und ich sah die schwarzen Haare einer anderen Frau. Sie tanzte mit einem Mann, der wiederum mit einem Mann tanzte, an dessen Ende die ersten grünen Echsen saßen und ihr Hals war von einem Band umgeben und sie hatte den wunderschönsten Rücken, den ich je gesehen hatte, einen nackten Rücken und strahlend klare Augen von diesem wunderbaren Echsengetränk und sie war verlobt, sagte sie, während andere Männer ihr an den Busen fassten, und sie senkte ihren Kopf und blickte zu mir, gab ihre Schulter preis, lockte mich, indem sie sich langsam zur Musik bewegte, lächelte, blitzte. Die Wellen ihrer Stimme pflanzten sich fort über das Ohr und die Windungen meines Gehirns in mein Blut und in mein Herz. „Oh mein Gott, du hast so ein schönes Gesicht“ sagte sie und ein anderer Mann kam dazu und nickte bestätigend, als wäre ich ein Kunstobjekt, ich wusste, ich würde hier früher oder später raus müssen, ich wusste, dass auch sie frische Luft brauchen würde, diese Frau mit dem wunderschönen Rücken, ich befreite mich mit ihr von dem pulsierendem Echsenkollektivwesen und wir tanzten ins Freie, waren plötzlich über der Stadt, unten fern die Lichter, es regnete, zu weit weg, sie schmiegte sich an mich, ich nahm sie in die Arme, sie zitterte, wir küssten uns langsam, es fühlte sich an wie Liebe, ein warmes, doch zebrechliches Glücksgefühl, ich strich über ihren Rücken und ihre Haut, sie atmete tief und schloss die Augen ihre Stirn lehnte an meiner Brust ihre Hände auf meinem Rücken auf meinem Arsch ihre Lippen küssen ganz schüchtern und weit weg, sie muss erst hierher finden hierher ins Freie wo bist du nur? Haben wir dich vergessen? Unsere Lippen aufeinander ihre Zunge streicht über meine, lass uns doch einfach ficken, wäre das nicht schön? Das wäre wunderschön vielleicht verlieben wir uns ineinander vielleicht werden wir gemeinsam Kinder haben Vielleicht verlieben wir uns ineinander und wenn es nur für zehn Minuten ist.

Sitzen auf dem Balkon. Still war es. Nass. Wir sitzen einander haltend da, starren in den strömenden Regen. Wir sind irgendwo im Freien, aber es spielt keine Rolle. Es ist trotzdem alles unendlich weit weg. Eine mir sonst unbekannte Traurigkeit überkommt mich. Die Echsen klettern die Fassade hinab, vom Regen weggewaschen, ein trauriger Blick, gerötet die Wangen, zurückgekehrt vom Kollektivwesen, gröhlend tost Trompetenmusik aus dem Gebäude heraus. Ihre Hand liegt in meiner. In ihrer Handfläche sammeln sich die Regentropfen.

Ich stehe auf und beuge mich nach vor. Um zu sehen, wo die Echsen sind, und ob sie wiederkommen, aber ich sehe sie nicht. Ich sehe noch genauer. Aber ich sehe sie nicht. Und ich sehe noch genauer, doch ich sehe sie nicht.

Es ist alles soweit weg jetzt.

Es ist alles soweit weg jetzt. Soweit weg. Ich sehe Tod über mir, fliegend. Er zieht über das Land und pflückt die Seelen. Er grinst nicht. Ein großer, langer Schatten hüllt mich ein. Er klopft an meiner Türe. Doch ich wage es nicht zu öffnen. Ich bin so traurig. Warum bin ich nur so traurig? Ich schaue hinter den Echsen her, doch sie sind verschwunden. Wo sind sie nur? Tod ist gekommen. Er blickt mich an und ich versuche nicht hinzusehen. Es ist alles soweit weg jetzt, soweit weg da unten und dann ist alles verschwunden.

VIII.

Ich hänge an einem Mauervorsprung, muss gesprungen sein. Unter mir geht es gut 30 Meter hinab in die Tiefe. Ich klammere mich an dem Beton fest, finde langsam Halt, ziehe mich hoch.

Mein Herz klopft. Ich habe Schmerzen. Bin ich tot und lebe in einer Parallelwelt weiter? Fassungslos starre ich in den Abgrund hinunter. Ich muss laut lachen. Niemand ist da. Nur die Symphonie des Regens über einer unsichtbaren Stadt prasselt herab.

Ich gehe ins Haus. Keine Spur von einem Fest. Keine Prinzessin, keine Frau mit dem Rücken, niemand. Auch keine Eidechsen. Ich gehe um eine Ecke, plötzlich steht der Arbeiter von Beginn wieder da.

„Na? Immer noch keinen Ausgang gefunden?“ fragte er.

„Nein.“

„Freunde gefunden?“

„Weiß nicht.“

„Aber man passt sich an mit der Zeit.“ ergänzt er meine Verschwiegenheit.

„Sozusagen.“

Er klopft mir auf die Schulter und geht wieder. Ich denke mir: Lass dich einfach treiben, so wie du es früher immer getan hast an sonnigen Nachmittagen. Also schlendere ich durch die Gänge und Stiegen des Theaters. Ich gehe vorbei an geschlossenen Fenstern und Türen und weiß nicht, wohin der Weg mich bringen wird. Ich gehe einfach.

Plötzlich stehe ich in einem Garderobenraum. Dahinter höre ich Straßengeräusche. Ein Auto. Gelächter von Menschen. Ich gehe durch die Schwingtür und stehe im Eingangsraum des Theaters. Die Haupttür ist offen und ich kann die Welt draußen sehen, die Welt jenseits des Vorhangs. Es nieselt draußen, aber die ersten Sonnenstrahlen spitzeln bereits durch die auseinanderdriftenden Wolken, spiegeln sich in Wasserpfützen. Eine Gruppe von Kindern läuft schreiend vorbei. Ungläubig starre ich auf das Leben und die Bewegungen da draußen, bis ich allmählich an deren Echtheit glaube. Ich nähere mich der Türe, durch die die vertrauten Geräusche der Realität dringen und will hinaustreten. Zwei kräftige Männer stehen an den Flügeln. Sie sind elegant gekleidet.

„Haben sie eine Karte?“ Fragt mich einer.

„Eine Karte. Was für eine Karte?“

“Sie brauchen eine Eintrittskarte. Bitte kaufen sie sich eine. Da an der Kassa...”

Die Männer wenden sich von mir ab. Ich gehe verwirrt zur Kassa. Die Kassierein ist vertieft in ein Buch. Ich sage nichts und warte nachdenklich. Es dauert, bis sie mich bemerkt.

“Wozu brauch ich eine Karte? Für draußen?”

“Na, für den Eintritt natürlich. Macht 6,50.”

Aber ich hab doch kein Geld. Ich hab doch kein Geld.

„Ich hab doch kein Geld.“ Flüstere ich leise, aber niemand hört mich. Plötzlich ist eine Pausenklingel zu hören. Sie erklingt aber nicht von innerhalb des Theaters. Sie kommt von draußen. Von draußen. Dann nocheinmal. Und schon weit weg, jenseits des Theaters, irgendwo auf der Straße, bei der Fußgängerampel muß es sein, ruft jemand, ich höre es noch, bevor alles in Unerreichbarkeit rutscht für mich: “Die nächste Vorstellung beginnt in fünf Minuten...”.

Montag, Juli 14, 2008

Leben der Anderen

Ich sitze da am Ufer des Sees. Türkisgrün und Blau ist das Wasser. Die Körper der schlanken, langen Fische ziehen knapp unter der Wasseroberfläche vorbei. Die Bäume und Schilfwälder bewegen sich langsam im Wind. Vereinzelt werden die Stimmen anderer Menschen zu mir getragen. Mit dem Feldstecher kann man die Gärten der Nachbarn und ihr Strandleben beobachten. Zwischen den dichtgewachsenen Bäumen und dem meterhohen STräuchern und dem Schilf huschen gelegentlich die Körper von Männern und Frauen vorbei. WEit weg. Ich sehe es nur ganz klein. Aber ich kann mein Interesse an ihnen nicht zurückhalten. Sie laden ein zu Phantasien erotischer Abenteuer. Es ist leider das Erste, das mir in den Sinn kommt. Erotische Abenteuer mit Unbekannten, spontaner Sex ohne langwierige Wortwechsel und Beziehungsbezogene Kompliziertheiten. Ich sehe nur die Bilder nackter Körper. Sie sind wie Wasser im Aderwerk meiner sonntaglichen Vorstelllungen, die dahinplätschern wie das Wasser, wie die flinken Fische, die rasch wieder abtauchen im Dunkel des Sees. TAbulose Ehebrüche, Verführungen junger Mädchen und unsittliche Begegnungen - die nicht geschehen. Sie drohen eher, wie die schweren Gewitterwolken, die sich allmählich über mir zusammenbrauen. Wie eine schwere Last zerrt die Lust, zerrt an den Ästen der Bäume und lässt die Wellen schäumen. Richtig laut ist es in mir - an diesem entlegenen Ort. Und außer meinen lauten Gedanken höre ich nur den Wind und das Rauschen der Bäume und das Rascheln vom Schilf.
Eine Frau küsst einen Mann, drückt ihren Körper gegen seinen. An einem Badegrundstück daneben geht ein Mann nackt baden. Ich sehe ein Mädchen, das oben ohne auf einem Gehsteig sitzt und scheinbar etwas liest. Niemand scheint Anteil zu haben an meiner Abgründigkeit, die ich mir im Leben der Anderen hier vorstelle. Niemand ahnt etwas. Niemand.
Da hüpft eine schwarzhaarige junge Frau, ganz nahe bei mir mit einem Kopfsprung ins Wasser. Ihre Augen mustern mich kurz, wenden sich ab. Als könnte sie in mir wie in einem Buch lesen. Oder als hätte sie ähnliche Gedanken wie ich, mehr oder weniger bewusst, aber hat keine Lust, sie irgendwie mehr als Gedanken werden zu lassen. Die Brüste der Frau sind vom Bikini verdeckt, alles glänzt und glitzert vom Wasser in der Sonne, ihre Lippen sind voll und rot. Soviel sehe ich in der Kürze, ohne mich verdächtig zu machen.
Es bleibt alles wie es ist. Der Wind weht mir um die Ohren, das Wasser kräuselt sich. Lauter und stiller als zuvor bleibe ich hier sitzen. Nicht dass in der Umsetzung derartige Phantasien diese Süße und Vollkommenheit behalten würden, die sie in ihrer schieren Möglichkeit besitzen. BLoß vor meinem inneren Auge denke ich mir all das aus. Denn in Wahrheit würde ich es nie wagen, so ein moralloser Strolch zu sein, wie in meinen Gedanken.
In der Ferne thront mächtig, wie ein schlafender Riese, eine Hügelkette, deren Spitze schon von dunkelgrauen Regenwolken eingehüllt wird. Die Sonne verblasst allmählich hinter einem hoch über mir aufgerollten Wolkenband, dessen Anfang und Ende sich im Himmel irgendwo verliert.
Ein spitzes Fischgesicht durchbricht die auf den kleinen Wellen hüpfenden und verzerrten Spiegelungen der Bäume und des Himmels.
Das Leben der Anderen passiert hier, nimmt vor mir seinen Lauf. Ich bin der schweigende Beobachter, ich höre den leisen Erzählungen vom Fremden zu.
Unwirklich erscheine ich mir selbst, irreal, wie die meisten meiner Phantasien. Rätselhaft bin ich mir und mir die Welt der Anderen. Leben, denke ich mir, als ich meine Familie auf der Wiese hinter mir sehe, mit einem Ball spielend und lachend, ist eine reichhaltige Fülle an Dingen, Momenten, Eindrücken und vielen Möglichkeiten.

Mittwoch, Juli 09, 2008

beben

Irgendwo muss das Tor sein
in diese eine andere Welt
in der man sich auf Abstand bringen kann
zum Tunnel des Seins.

Diese Embryo-Welt
in der wir durch einen
direkten Draht zu Allem
verbunden sind.

Gehalten sein von Gott.
Würden Kirchenmenschen sagen.
irgendwo muss es die Tür geben
und in dem Zimmer dahinter steht
dieses Bett in das wir uns zum Schlaf legen.

Wo wir einfach sind.
Ohne selbst unterteilt zu sein,
gespalten und getrennt
sehnsüchtig
hungrig
nur Sein.

Aber wurde dieses Tor
nicht sogar von mir selbst
schon längst vor Zeitaltern
zugestoßen. Oder von einer anderen Kraft?

Irgendwo ist diese eine Tür
und man kann durch sie hindurchschreiten
immer wieder.

Ganze Leben lang suche ich sie schon.
Milliarden Menschen suchen diese eine Tür.
Im Glauben, dass sie existiert.
Es gibt sie einfach.