Mittwoch, Juni 04, 2008

Böse Tierchen

Langsam lässt sich das kleine Tierchen nicht mehr von meiner Schulter abschütteln. Es sitzt einfach da und starrt mich mit seinen kleinen, schwarzen, bösen Augen an. Fest in meine Haut gekrallt.

Dann taucht da plötzlich eine Treppe auf. Sie führt hinauf und hinunter. Schwarze Treppen in alle Richtungen. Eine Welt aus Treppen. Da, wo keine Treppen sind, scheint der Aufgang zu sein. Umkehrung sozusagen.

Es ist still und ich mache den ersten Schritt. Es wird kalt. Sehr plötzlich. Dann tauchen wie Projektionen eines alten Filmabspielgerätes Bilder auf. Von Menschen. Mit kurzen Haaren und mit langen. Sie lachen irgendwie. Ich wische sie weg.

Das Tierchen flüstert leise etwas in einer fremden Sprache. Es klingt belustigt, aber worüber amüsiert es sich nur?

Auf den Felsblock über mir werden Wellen herangespült. Salziges Wasser. Es ist kalt. Der Mond spiegelt sich unruhig in den Wellen. Sein Bild hüpft unruhig und fragmentiert auf und ab. Verzerrt sich mal in die Weite, mal in die Höhe. Die Treppen führen durch das Wasser. Sie verschwinden darin. Aber man spürt das Wasser nicht. Ich werde nicht nass. Es geht einfach weiter, aber es bin nicht einmal ich, der geht. Die Welt geht. Ich bin ganz still.

Einzelne Sonnenstrahlen streifen über mich hinweg. Blenden mich. Ein Blumenstrauß wächst aus dem Boden empor. Große und kleine Fische drehen gemächlich ihre Kreise. Später soll etwas kommen, etwas großes Schwarzes, das sie auffressen wird. Aber sie werden bloß in einer anderen Welt mit anderen Grenzen weiterleben. Falls ihr versteht, was ich meine. Sie werden vielleicht eines Tages als kleine, pelzige Tierchen auf den Schultern anderer Menschen sitzen und böse in die Gegend schauen und sich wünschen, dass sie alles fressen könnten. Fressen. Nicht aus Hunger. Bloß aus Lust.

Und die Menschen stehen in einem großen Kreis beisammen. Sie halten sich die Hände. Sie summen eine Melodie, scheint es. Irgendwoher kommt Fackellicht. Aber es gibt keine Fackeln. Das Licht flackert, als würde an den Wänden herum der Schein von Feuer tanzen. Aber es gibt kein Feuer und auch keine Wände. Es gibt Nichts. Alles ist bloß der Anschein von etwas anderem. Das klingt unglaublich, aber es ist so. Irgendwann trollt sich das kleine Tierchen auf meiner Schulter davon. Es hüpft auf die Treppen, hüpft wieder auf andere Treppen und taucht dann ins Wasser ein und ist einfach weg. Und kommt nicht wieder. Nur sein Kichern, besser gesagt sein Geflüster, das wie kichern klingt, ist noch zu hören, so als wären seine Geräusche einfach nur bei mir geblieben. Das muss eine Art von sinnlicher Wahrnehmungsstörung sein. So wie angebliche Jungfrauen mit üppigen Körpern mich einladen, neben ihnen Platz zu nehmen und mich anfassen und sich anfassen lassen. Würden, wenn es sie nur gäbe.

Oder so wie die kurzen Phantasien, die man im Alltag so hat von plötzlichem, ungehemmten Sex mit Arbeitskolleginnen oder Kollegen, je nachdem. Alles kommt irgendwann irgendwo an, ohne je und für immer irgendwo zu bleiben.

Fest des Lebens. Musik, bunte Lichter in den Ästen eines riesigen, knorrigen Baumes, fröhliche Menschen, ein großer Tisch mit einem dampfenden Braten und Gemüse und Obst und Getränken. Und zauberhaften Säften. Und auch ein Tod, der mit grinsendem Gesicht zwischen der Festgesellschaft torkelt und eher aus Ungeschick als aus Vorsätzlichkeit die Menschen berührt und sie mitnimmt. Das wissen alle. Aber sie lachen dennoch. Gerade auch weil er da ist. Und sie lieben sich. Und sie lachen. Während er sich eher über seine Ungeschicktheit ärgert und zugleich breit grinst – verkrampft, aber doch. Die Zähne blinken auf seinem kahlen Schädel, würden sich gerne rund um seinen Kopf herum aneinanderreihen und auf und zu klappen im Rhythmus der Musik.

Es gibt auch andere Orte, ganze Länder, Kontinente in denen darauf vergessen wird, dass es diesen Baum hier gibt. Und diese Menschen. Diese Kontinente bestehen aus den kleinen, pelzigen, bösen Tierchen, die flink umherlaufen, rastlos und ziellos und die am liebsten alles auffressen würden, aber zu klein sind dafür und deswegen böse in die Gegend starren.

Die Wellen vom Meeresufer, sei es aus Sand oder Stein, oder sei es auch bloß ein weiters Loch ins Nichts, das irgendwo abgeparkt wurde - also die spülen langsam in den Geist und irgendetwas machen sie mit ihm. Es muss nicht alles immer in ein klar definiertes oder definierbares Ergebnis münden. Manches ist einfach und wirkt. Manches hinterlässt Spuren, manchmal aber auch nicht. Lassen wir es doch im Raum stehen und freuen uns über seine Existenz.