Montag, Jänner 29, 2007

Lauf des Lebens

Lange schauten wir uns einfach nur an. Irgendwie schien Ella zu lächeln, obwohl ihr Gesicht als solches ernst aussah. Aber ihr Wesen lächelte. Jenes Wesen hinter der Oberfläche ihrer Körperlichkeit. So gesehen hatte ich zum ersten Mal seit langem ein besonderes Gesicht vor mir. Der tosende Lärm des Orkans verkam zu einem bedeutungslosen Wimmern im Hintergrund. Mein Herz raste immer noch.
"Hallo." sagte ich, in der Hoffnung nicht irgendwie albern oder unsicher zu wirken.
"Hallo." sagte sie in einer Weise, die irgendwie nicht in die Situation passte. Immerhin waren wir beide gerade einem Orkan entkommen, standen da in einer kleinen Nische und versuchten gleichzeitig normal zu wirken. Wobei ich richtigerweise sagen muss: Ich versuchte normal zu wirken. Ihr war es glaube ich, ziemlich egal.
"Der Orkan hätte mich fast weggerissen." erklärte ich ihr betont gleichmütig.
"Glück gehabt." sagte sie.
In ihren dunklen, braunen Augen lag ein ganz bestimmter Glanz, so daß man glauben konnte, hinter der Oberfläche ihrer Augen, ihrer Iris würde es noch weit, weit weiter gehen. Als wäre ihr Körper bloß die Ausformung einer anderen Ebene. Gleichsam das Tor in eine andere Form des Bewusstseins. In der Nähe dieser Frau zu stehen, fühlte sich an, wie ganz knapp vor der Türe in einen Keller, oder auch einen verschlossenen Paradiesesgarten. Ganz schwach war ein Hauch von dieser anderen Welt zu bemerken. Der Funke einer Idee von einer anderen Welt.
"Ich hab mir schon gedacht, dass du dich heute nacht hier rumtreiben würdest." sagte Ella.
"Ich wollte heim." erwiderte ich empört.
"Ja. Irgendwohin. In irgendein irgendwohin. Das sieht man dir schon an. Und jetzt bist du da."
"Ja. So eine Überraschung."
Ella erhob sich leichtfüßig von ihrer hockenden Position am Boden und ging plötzlich an mir vorbei. "Ich gehe jetzt."
Sie drehte sich zu mir. "Komm mit, wenn du magst." sagte sie und sah mich dabei mit einem Hauch von Hochmut an.
Dann verschwand sie in dem wieder laut anschwellendem Tosen des Orkans, dessen Gebrüll nun zu einer furchtbaren Symphonie von Ellas anderer Realität anschwoll.

Donnerstag, Jänner 18, 2007

Der Orkan

Es war schon spät, als ich mein eigentliches Ziel, die Kathedrale, erreichte. Ein Scheinwerfer warf ein bleiches Licht auf die verwitterten Gemäuer des Gebäudes. In einem der Zimmer hoch oben am Hauptturm brennte ein Licht. Vor dem Portal war bereits das Gittertor aufgezogen. Nur noch durch eine kleine Tür konnte man das Gotteshaus betreten. Ich huschte hinein.
Nachdem ich die schwere Holztür aufgedrückt hatte und im Raum stand, hielt ich zunächst völlig inne. Zunächst fiel mir niemand auf. Erst als ich aus dem Dunkel in den Bereich trat, der vom Licht hunderter flackernder Kerzen beleuchtet wurde, sah ich die regungslose, geradeaus starrende Gestalt des Kirchenhüters. In seiner Hand hielt er einen großen Schlüsselbund. Sein Gesicht war irgendwie seltsam geformt, die Nase war im Vergleich zum Gesicht eher langgezogen. Seine Augen traten weit aus den Augenhöhlen hervor, seine Lippen hatte er hart aufeinander gepresst. Trotz seiner Anwesenheit hatte ich aber nicht das Gefühl irgendwie gestört zu sein. Der Hüter war halt auch da. Mehr nicht.
Die alte Frau, die immer da saß und den Kopf gesenkt hatte und die auch schon seit Wochen tot sein könnte, erblickte ich ebenfalls. Ich zog keinen Moment in Erwägung, dass sie auch gestorben sein könnte. Weit vorne, hinter dem Altar, leuchtete in schwachem Licht die Abbildung einer Heiligengestalt.
Was machte ich hier eigentlich?
In Wahrheit hat mich der Hunger hierher getrieben. Ein unstillbares Gen in mir, das stets das Eintreten des Besonderen erwartet. Aber war nicht schon genug geschehen? Überall sah ich in Abbildungen der Heiligen Jungfrau Maria, und in das Antlitz von Jesus und in das goldene Dreieck, das Gott darstellen sollte. Überall diese gütigen Blicke, die aber tief in mich schauen konnten. So fühlte es sich zumindest an. Sie blickten tief in mein Inneres und bewerteten es aber nicht. Dadurch fühlte ich mich noch elender. Vielleicht war das die Psychologie von Religion. Mir kam der Gedanke an den Alten. Er war schon tot, da war ich mir ziemlich sicher. Und ich war mir auch ziemlich sicher, dass er nicht an diesem Ort herumschwebte. Das würde nicht zu ihm passen. Wahrscheinlich würde der arme Teufel irgendwo im Universum herumschwirren und immer noch nach dem was wir Liebe nennen suchen. Oder nach dem, was er meint, dass Liebe ist. Oder er existierte nicht mehr. Das war auch möglich.
Irgendwann fragte ich mich, ob Ella in der Nähe war. Es fiel mir immer noch schwer, mir klar darüber zu werden, was ich über die Begegnung mit ihr denken sollte. Und ob ich ihre Nähe überhaupt suchen sollte. Ich verließ die Kirche wieder, ohne das Gefühl zu haben, überhaupt in ihr drinnen gewesen zu sein. Mein Kopf war voll mit anderen Dingen.
Draußen zogen bereits die ersten Wolken eines gewaltigen Orkans auf. Die Farben des Himmels waren irreal. In Gelb erstrahlten die Häuser, die um die Kathedrale standen, obwohl es trotzdem Nacht war. Erste Sturmböen rüttelten an Straßenlaternen und Zeitungsständern. Die Atmosphäre war plötzlich sehr energiegeladen. Man konnte förmlich die Spannung spüren, unter der die Luft stand und wie sie am liebsten sofort laut aufjaulen und all ihre Kräfte entfesseln würde. Aber die Gesetze der Physik, oder war es Gottes Wille, erlaubten dies noch nicht. Ich musste mich beeilen nach Hause zu kommen, wenn ich nicht in das Chaos des Orkans geraten wollte. Das Licht im Turm war erloschen. In den Häusern war kein Licht hinter den Fenstern zu sehen. Die wenigen Kaffeehäuser in der Umgebung waren bereits zugesperrt. Niemand würde mir helfen können. Niemand würde mich sterben sehen, niemand würde bemerken, wie ich von einer Windhose ergriffen und davon geschleppt werden würde. Ich würde ganz einfach und einsam verschwinden und Tage später vielleicht eine Zeitungsmeldung oder einen kurzen Internetartikel abgeben. Mehr nicht. Wenn es kommen sollte, dass der Orkan mich erwischen würde. Wenn er mich als Opfer überhaupt wollte.
Rasch ging ich über den weiten Platz vor der Kirche. In Windeseile ballten sich pechschwarze Regenwolken über mir zusammen und der Wind wurde immer hartnäckiger und schien seelenruhig vor sich hin zu pfeifen, als hätte er schon längst entschieden, wen und was er diesmal mitnehmen würde. Über meinen Schultern hatte ich das Gefühl, Gott selbst würde für ein lautes Niesen Atem holen, zumindest einmal ordentlich alles durchfegen wollen. Es war still und laut zugleich. Dann ging es los. Mit einem lauten Krachen, wie eine unsichtbare Flutwelle ungeheuren Ausmaßes, brauste der Orkan durch die Straßen und über mich einher und schubste mich, ohne Widerrede zu dulden, über den Betonboden und die Straße entlang. Es wurde immer heftiger und gefährlicher. Mehrere Male stieß ich mit voller Wucht gegen ein Auto und gegen die Hauswände. Herabfallende Dachteile und umherfliegende Gegenstände verfehlten mich nur knapp. Ich fand mich in der Hölle wieder, jedenfalls an einem Ort, dem eindeutig nichts daran lag, dass ich heil nach Hause kommen sollte.
Irgendwie krallte ich mich irgendwann instinktiv an einem Mauervorsprung fest und schaffte es, mich in eine Nische zu ziehen, in der es einigermaßen windstill war. Allmählich spürte ich die Schmerzen meiner Aufpralle und der Kopf dröhnte mir, als würde ich im Zielfeld mehrerer Wasserstoffbomben stehen.
"Na sowas..." hörte ich eine helle Frauenstimme hinter mir sagen. Ich drehte mich um und sah Ella da stehen, zusammen gekauert in einer Ecke, eingepackt in einen dunklen Wintermantel. Diesmal hatte sie keine roten, sondern schwarze Haare. "So eine Überraschung..." dachte ich mir.

Sonntag, Jänner 07, 2007

Der sterbende Alte

Zwischen den Morgenstunden und dem späten Nachmittag lebe ich normalerweise in einer Art seltsamen Loch. Nicht im physischen Sinn, sondern gemeint ist ein Zustand der Ereignislosigkeit. Meistens passierte nichts zwischenmenschlich Erwähnenswertes. Die Tagesstunden waren angefüllt mit mehr oder weniger mechanischen Tätigkeiten, die kurz unterbrochen wurden von diversen Gesprächen mit anderen Menschen, die aber meist ohne Nachgeschmack verklangen.
Daher werde ich keine unnötigen Worte darüber verlieren. Oder wenn, dann zu einem anderen Zeitpunkt.
Ich verlies das Gebäude in den späten Abendstunden. Wenn man von der Straße hinaufblickte, konnte man hinter den rießigen Fensterscheiben die Neonröhren sehen, die von der Decke strahlten und die futuristisch anmutende Atmosphäre in den Räumen erahnen.
Eine kräftige Windbö blies mir ins Gesicht und trieb mich weiter. Voran, dachte ich mir. Weiter. Irgendwohin.
Irgendwohin war für mich die Kathedrale. Irgendwohin war auch Ella. Und die Geschehnisse an diesem Ort. Und es war auch Annabell und unsere Tochter. Mehrere Ziele in unklarer Reihenfolge in meinem Kopf aufgereiht.
Ich ging bald eine kleine Gasse entlang. Eine der über mir hängenden Laternen flackerte nervös. Ein paar Autos waren geparkt und der Wind trieb altes Laub, Plastickbecher und Zeitungspapier vor sich her. Zuerst hätte ich den alten Mann gar nicht bemerkt, der sich mit schweren Schritten eine vollgesprayte Hauswand auf der gegenüberliegenden Strassenseite entlangschleppte. Aber irgendwann war sein schwerer Atem nicht mehr zu überhören. Er ging gebückt, stützte sich an der Mauer ab und hustete schwer.
Ich zögerte kurz, wollte meinen Weg nach Irgendwohin nicht unterbrechen. Aber der Anblick des Alten war erbärmlich. Plötzlich verstummte er völlig, verfiel in eine starre Körperhaltung und schloß seine Augen. Ich näherte mich ihm vorsichtig.
"Komm her...komm her..." zischte er leise und schwach. Er konnte mich nicht gesehen haben, aber vielleicht hatte er auch gar nicht mich gemeint. Ich blickte mich um. Wenn ich weitergehen würde, würde er vielleicht während der nächsten Schritte verrecken. Niemand würde ihn finden. Oder wenn, dann erst in Stunden.
"Brauchen sie Hilfe?" fragte ich unbeholfen.
Er schüttelte den Kopf und ergriff ohne mich anzusehen meine Schulter.
Der Alte war weiß wie der Mond. Fast schon strahlte er überirdisch. Der Tod war in seinem Körper erwacht.
Als wäre meine Anwesenheit das, worauf er gewartet hat, lies er sich langsam zu Boden sinken.
"Ich hole Hilfe..." versuchte ich ihm zu erklären. Aber er schüttelte den Kopf. Dann schaute er mich endlich an. In seinen Augen lag noch die Kraft eines wachen Geistes, aber das Licht in ihnen wurde schon schnell schwächer. Sein Gesicht war faltig, seine Lippen schmal, leicht verzogen.
"Nein. Ich bin in meinem Leben soweit gegangen. Für diesen letzten Weg geh ich nirgendwo mehr hin." Da war ich also in meinem Irgendwo - bei einem Sterbenden.
"Leisten sie mir doch Gesellschaft. Es wird nicht lange brauchen." sagte er weiter. Folgsam hockte ich mich neben ihn auf den Boden. Mit war plötzlich nicht mehr kalt, ich spürte den Wind nicht mehr, ich fühlte mich, als stünde ich am Scheideweg zwischen zwei Welten. Aber ich konnte mich weder vor noch zurückbewegen.
"Es ist aus mit mir."
Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Mein Kopf war plötzlich so leer. Es gab nichts zu sagen, oder zu fragen. Es gab nur das Jetzt, ohne Gedanken.
"Haben sie schon einmal geliebt?" fragte er. Ich nickte.
"Ich habe noch nie geliebt." sagte er mit einer schwachen Stimme, "Ich habe begehrt, erobert, verlassen und betrogen, getrauert und gehasst. Aber der Liebe bin ich nicht nähergekommen."
"Aber all das ist doch Teil der Liebe..." sagte ich.
"Nein. Das sind ihre niederen Erscheinungsformen. Aber das ist nicht lieben. Das wird mir fehlen. Wie ist das bei dir, Junge?"
Wie war das bei mir? Ich zuckte mit den Achseln. Liebte ich?
"Wenn du´s mir beantworten kannst, vielleicht bleib ich dann am Leben..." flüsterte der Sterbende.
"Ich weiß nicht...ob ich je geliebt habe. Ich habe jedenfalls jede Menge Probleme wegen Frauen gehabt. Aber ich glaube, ich habe schon geliebt."
"Aber wenn due jetzt, in den nächsten Sekunden sterben würdest, würdest du dann auch sagen, dass du geliebt hast? Deine Liebe gelebt hast? Alles weißt und gehen kannst?"
"Nein," sagte ich verunsichert, "das glaube ich nicht."
Der Alte nahm meine Hand. Sie war bereits ganz kalt. Er funkelte mir in die Augen, als wäre er zornig, wegen der ausgebliebenen Antwort, wegen seinem Tod, ich wusste es nicht.
"Dann schau, dass du es rausfindest. Oder verrecke für immer in der Hölle. Denn ich weiß es auch nicht." Er lockerte den Griff um mein Handgelenk. "Und hör auf, so sinnlos durch die Welt zu rennen. Dafür ist sie zu einmalig."
Er schloß wieder seine Augen. Hustete und war noch bleicher, als zuvor.
"Und jetzt hau ab." sagte er. "Ich will alleine sterben."
Ich blickte den Alten entgeistert an, stand auf und suchte nach irgendeinem sinnvollen Satz in meinem leeren Kopf. Aber da war nichts. "Auf Wiedersehen..." sagte ich dem Sterbenden meiner Unbeholfenheit und verfluchte mich dafür. er machte noch irgendein Geräusch, vielleicht war es auch ein Kichern. Ich wollte es nicht wissen und verlies diesen schaurigen Ort.