Mittwoch, Dezember 27, 2006

Beinahe nichts passiert

Ich war nicht gerade von Todesangst gepackt, während ich durch die langen Schächte der U-Bahn-Station ging. Alle 30 Meter waren in der Decke Beobachtungskameras postiert. Bleiches Neonlicht strahlte auf einen herunter. Ein schwarz-weiß gesprenkelter Marmorboden erstrecke sich fast spiegelglatt bis ans Ende des Ganges, wo eine Rolltreppe in die Oberwelt führte. Der Raum war erfüllt von den Geräuschen gehender Menschen. Hunderte unterschiedliche Arten zu Gehen klangen in meinem Ohr.
Auf dem Boden vor einer Glastür in der Wand saßen einige Junkies und starrten völlig weggetreten in ihre eigene Kotze. Ein junges, abgemagertes Mädchen saß mit halbgeöffneten Augen und von Benzodiazepinen gebläuten Lippen neben einem Typen, der mit Augen, in denen sich das Nichts eingenistet hatte, die Passanten anstarrte.
Ein bißchen machten mir diese zugedröhnten Kreaturen den Eindruck, als wären sie nur da, um die Verkommenheit und Abgestorbenheit dieser Stadt sichtbar zu machen. Als wären sie die Eingeweide des kollektiven Unbewussten. Die ausgebrannten Irrlichter des Fundaments dieser Stadt. Das morsche Gerüst unserer sonst so strahlenden Welt. Die Gegenargumente zu einer medienverseuchten Welt, in der der Anschein von Persönlichkeit mehr zählt, als das bloße Vorhandensein derselben. Sie wirkten so natürlich in dieser Umgebung und saßen auch trotz ihres erbärmlichen Zustandes mit einer Selbstverstädnlichkeit da, die jeden anderen Menschen erblassen ließe.
Als ich die Treppen hochsteigen wollte, um mich wieder in die geschäftige Welt des Alltaglebens einzuklinken, hörte ich die brummende Stimme eines vollbärtigen, großgewachsenen Säufers, der in seiner abgewetzten, vollgepinkelten Kluft dastand und durch die Gänge gröhlte. Zwei junge Frauen, die an ihm vorbeigingen senkten ihre Köpfe und machten einen richtigen Bogen um den grotesken Mann. "Ihr seid frei? Ihr seid glücklich?" schallte der Rübezahl ihnen nach. Er grunzte und lachte schallend und lange. "Ach...ihr seid doch nur Sklaven des Geldes...Hahaha..."
Dabei schwenkte er seine Bierflasche, prostete weiteren Passanten zu und leerte den Rest des Bieres in seiner Flasche. In Gedanken pflichtete ich dem Mann bei. Er hatte definitiv Recht. Und er hat seine Konsequenzen daraus gezogen. Und ist wieder in einer Art Gefängnis gelandet. Bevor ich in den eckigen Büroturm ging, in dem ich lange Strecken meiner Zeit auf der Erde verbringen musste, dachte ich mir noch, dass ich am Abend wohl zu Fuß heim gehen würde. Und vielleicht würde ich wieder einen Blick in die Kathedrale werfen.

Freitag, Dezember 15, 2006

Unterwegs

Ich starrte vor mich hin. In den Kurven rüttelte die Strassenbahn, während die Plastikhalter für die stehenden Gäste im Gleichtakt schaukelten. Draußen klatschten die Regentropfen an die Fensterscheibe. Die Wolken hingen heute tief am Himmel. Ich überlegte mir, wie oft ich schon diesen Weg gefahren bin. Zu oft. Die Straße hinunter, über den Fluß drüber. Umsteigen. Mit der Rolltreppe hinunterfahren. Die U-Bahn nehmen. Die tausenden Gedanken, die mir im Kopf herumgegeistert sind. Alle verloren. Vergessen. Ich weiß sie nicht mehr. Aber, tröstete ich mich, sie waren nicht umsonst. Bloß kleine Bojen, unausgesprochene Bojen im Meer meines Daseins. Das waren die Gedanken.
Zwischen den Regen mischten sich auch ein paar Schneeflocken, schien mir. Endlich wurde es kalt. Ich mochte es, wenn der Winter ins Land kam. Die dunkle Jahreszeit, wenn die Nacht schon am späten Nachmittag anfing, hatte immer schon einen ganz besonderen Zauber auf mich ausgeübt. Die meisten meiner Mitmenschen sahen darin nur die Trübsaal, unter der sie dann litten, oder das Gefühl zu frieren. Aber ich fand, dass sich dann der Blick eher ins Innere der Menschen richtete. Dass dann die Gespenter, die in uns wohnen, die Türen in die Welt leichter aufstossen können, leichter unter uns sind. Manche mögen sie nicht. Und mir machen sie auch manchmal Angst, aber irgendwie mag ich die Zeit und ich mag es, wenn auch die eigenen Geister einmal ihren Platz einnehmen dürfen.
Während mein Blick über die hunderttausenden Häuserwände streifte, vorbei an den kleinen Verkaufsgeschäften, über deren Existenz ich mich immer wieder wunderte und vorbei an den Menschen, die mit hochgestellten Kragen und in Schals verpackt irgendwohin gingen, da versuchte ich ein besonderes Gesicht zu finden. Nicht ausschließlich in ästhetischer Hinsicht, sondern ich menschlicher. Aber es war nicht so leicht. Irgendwann vergaß ich darauf, nachzuschauen. Ich fand kein besonderes Gesicht. Besondere Gesichter tauchen nur selten auf. Die meisten erscheinen zwar besonders, können diesen Schein aber nicht aufrecht erhalten. Wahrscheinlich gibt es generell gar nichts Besonderes. Es ist alles gleich besonders. Also äußerst basisdemokratisch besonders. Also fragte ich mich, was wäre, wenn ich auf ein solch noch nicht näher bekannt besonderes Gesicht treffen würde.
Ich dachte an den gestrigen Abend. Es schien mir, aus irgendeinem Grund, als wäre wahnsinnig viel passiert seitdem. Dabei war das nicht der Fall. Nicht wenn man solche Entwicklungen nach vergangener Zeit und der Anzahl bedeutender Ereignisse misst. Aber es kam mir vor, als wäre ich ein Stück irgendwohin gedriftet. Und das machte mir Angst. Es irritierte mich. Ich hatte keine Erklärung dafür. Es war doch alles wie vorher. Hoffte ich.
Wie hieß die rothaarige Frau nochmal? Ella. Was sie jetzt wohl machte? Eigentlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt existierte. Mir war klar, daß ich sie wiedersehen würde. Aber was wäre, wenn sie tatsächlich nicht existierte? Wenn diese Erscheinung zwischen den jahrtausende Alten Gemäuern der Kathedrale bloß ein Echo war, die Erinnerung, die sich in den Steinen gespeist hatte, oder eine Ahnung von Geschehnissen, die erst passieren würden?
Ich dachte an die Gasse, in der sie wohnte und versuchte alles in meiner Erinnerung zu behalten, um es nicht zu vergessen. Ich dachte an die seltsamen Typen, von denen sie gesprochen hat. Aber ich kammit diesen Überlegungen zu keinem Ende. Wieder einmal.

In der U-Bahn-Station holte mich das Jetzt wieder ein. Also eigentlich die Vergangenheit. Der Bombenanschlag, der aber keine Toten gefordert hatte. Zahlreiche Polizisten patrouillierten bei den Treppen zum U-Bahn-Bereich. Die Kameras zoomten sich von Passant zu Passant. Dazwischen eilten die Menschen hinauf oder hinunter. Jeder versuchte nicht sonderlich verunsichert zu wirken, um die plötzlich latent in der Luft hängende Panik nicht zu verstärken. Aber zugleich schien es jeder eine Spur eiliger als sonst zu haben, um an sein Ziel zu gelangen. Um das Risiko, in der Öffentlichkeit in die Luft gesprengt zu werden zu minimieren, weil es unwahrscheinlich war, dass man im privaten Rahmen oder am Arbeitsplatz in die Luft gesprengt wurde. Viele Augen waren ganz leicht geweitet. Die Blicke tasteten fast schon gehetzt ihre Umgebung ab. Die Kameras kontrollierten alles. Die Polizisten schauten jeden ernst an. Woher kam die Gefahr? Wer wollte sich und, oder Andere in die Luft sprengen. Wie konnte man es verhindern? Wie würde man die Täter nachher, so es ihnen gelingen sollte, fassen können?
Ich wurde selbst unruhig. Mir wurde klar, dass ich auch jeden Moment würde sterben können. Man wusste nicht, was die Bombenleger wollten. Wen sie töten wollten, was ihre Ziele waren. Daher war man einer gewissen Todesgefahr ausgeliefert, die unberechenbar und allgegenwärtig war. So schnell ging das also. Gestern noch normal zu Mittag gegessen, heute in Todesgefahr und ein bißchen von Irgendwo nach Irgendwo abgedriftet. Dabei ist mir in eigentlichen Sinn noch gar nichts passiert. Aber manche Dinge, dachte ich mir beim Einsteigen in die U-Bahn, passieren schon, bevor sie passieren.

Montag, Dezember 11, 2006

Erwachen

Der nächste Morgen war etwas verstörend. Im Kopf hing mir noch ein seltsamer Traum nach, der keine Bilder in mir hinterlassen hatte, dafür aber, so fühlte es sich an, die Hälfte meines Bewusstseins scheinbar gefangen hielt. Ich blinzelte in den Tag hinaus, erhob mich ächzend und bemerkte, dass mein Körper wiederstandslos tat, was ich mir eben wollte, dass er tun sollte. Aber trotzdem war ich irgendwie auch nicht da. So ist das eben manchmal. Annabell schien nichts davon zu bemerken. Sie flitzte schon aufgeweckt durch die Wohnung. Auch unsere Tochter schien nichts von meiner seltsamen zweiten Welt, in der ich mich gerade befand mitzubekommen.
Mein Geist war da, und auch nicht. Irgendwie glaubte ich plötzlich, dass ich immer noch in der Kathedrale stand. Obwohl alle meine Sinne mir mitteilten, dass ich in meinem Zuhause war.
Soetwas konnte manchmal vorkommen. Ich kannte solche seltsamen Zustände. Allerdings hatten sie meist damit zu tun, dass ich in den Tagen davor irgendwelche Drogen konsumiert hatte. Aber das tat ich schon lange nicht mehr. "Wer ist Walter?" hatte jemand gefragt.
"Was sagts du?" fragte mich meine Frau. Meine echte Frau. In der echten Welt. Nichts, antwortete ich, oder auch nichts.
Als ich aus dem Schlafzimmer trat, knallte mir das gräuliche Licht vom Himmel entgegen. Ich fühlte richtig, unter welcher Spannung mein Geist war. Immerhin hatte er diese weite Entfernung bis zur Kathedrale auszuhalten. Und dort war ich immer noch stehen geblieben. lass es gut sein, sprach ich mir beruhigend zu. Es ist einfach so.
In der Küche kochte schon der Kaffee. Die Zeitung lag am Tisch. Als ich den ersten Schluck nahm und die Titelseite durchlas, war Annabell schon mit unserer Tochter weggegangen. In aller Herrgottsfrüh. Am Vortag war in der Nacht eine Bombe explodiert. Der Vorfall hatte sich in einer Einkaufsstrasse ereignet. Menschen waren keine zu Schaden gekommen. Die Hintergründe waren voererst unklar. Der Sachschaden war allerdings erheblich. Mehrere Geschäftslokale sollen vollkommen ausgebrannt sein. Ein Wunder eigentlich, dass niemandem etwas passiert war. Beim Überfliegen der nächsten Seiten waren noch ein paar Meldungen der aktuellen Innepolitik und unterschiedlichen Popstars, deren Schicksal tagtäglich in der Öffentlichkeit ausgebreitet wurde. Es war völlig unwichtig, wirklich.
Zu mehr reichte meine Zeit auch schon nicht mehr. Beim Blick auf die Uhrzeit wurde mir klar, dass ich sowieso schon spät dran war. Als ich die Wohnung verlies, hatte ich kurz wieder ein Gefühl. Sozusagen ein Gefühl von der anderen Seite. Oder vielleicht war es eher ein Bild. Es war der Anblick der Kathedrale. Der Blick in ihr schwarzes Portal. In die Finsternis ihres Raumes. Es war wie ein Blick in eine Art Nichts. Der Blick war aber auch nicht beängstigend. Er war einfach da und es war so, dass er irgendwie nicht hierher gehörte und das möglicherweise ein Teil meines Geister noch dort war. Vielleicht aber auch nicht.
Jedenfalls verließ ich dann meine Wohnung und ging zur Arbeit. Und irgendwie dachte ich mir schon beim Einsteigen in die U-Bahn, dass dieser Tag etwas ganz Besonderes werden sollte.

Samstag, Dezember 02, 2006

Zuhause

Als ich nach Hause kam, beschloss ich die seltsame Begegnung nicht zu erzählen. Es hätte nichts gebracht. Annabell, meine Freundin (wir waren nicht verheiratet), hatte wenig Verständnis für solche Geschichten. Absurditäten und nicht im Alltag beheimatete Geschichten machten ihr Angst glaube ich. Oder sie verachtete es aus einem anderen Grund. Ich kam nie dahinter, nach welchen Kriterien Menschen das Eine für Gut und das Andere für schlecht befinden. Und wie sich die individuellen Zu- und Abneigungen im Kollektiv zu einer hochexplosiven, jeder Vernunft entbehrenden, mordenen Masse werden können.
Es ist natürlich sehr schwierig, die genaue Beschaffenheit unserer Beziehung in wenigen Worten zu schildern. Es wird sich aber noch zeigen, denke ich. Jedenfalls wurde ich gleich von meiner kleinen Tochter begrüßt, die lachend auf mich zulief und hochgehoben werden wollte.
Annabell erinnerte mich, dass ich mir die Hände waschen sollte. Sie hauchte mir einen Kuss auf den Mund und verschwand in die Küche.
Ich tat, wie sie es von mir verlangte und spielte danach mit meiner Tochter. Immer wieder aber hatte ich die Gedanken an diese Begegnung mit der Frau im Hinterkopf. Wahrscheinlich hat man immer etwas im Hinterkopf. Es war wie, wenn man den Geschmack einer intensiven Speise noch lange am Gaumen hat. Und ich erinnerte mich gern an den Geschmack dieser Frau sozusagen. Als kleine, nette Erinnerung.
Ich wurde von Annabell mit strengen Blicken bedacht, da ich etwas spät dran war und sie einen anstrengenden Tag hatte. Und ich war zufällig in der Nähe. Ich war also jemand, den man es spüren lassen konnte. Als Versicherung der eigenen Existenz die Wirkung der eigenen Psyche im Anderen erforschen. Den Schlüssel finden.
Wir unterhielten uns beim Essen über den Tag, die wichtigsten Fortschritte unserer Tochter und andere Kleinigkeiten.
Irgendwann wurde ich gefragt: "War heute irgendwas? Du schaust so...anders aus." Ertappt verneinte ich. Man konnte Annabell einfach nichts vormachen. Sie merkte alles. Aber ich versteifte mich darauf alles abzustreiten - und es gab ja nichts zu verheimlichen. Mit einem ungläubigen Blick erhob sie sich. Schweigend räumten wir den Tisch ab. Dann wurde unsere Tochter ins Bett gebracht. Nach wenigen Minuten war es völlig still im Zimmer geworden. Meistens schlief Annabell im Bett neben dem Kind ein. Ich stellte mich zu dem Fenster im Arbeitszimmer und schaute auf die Dächer der Stadt. Wir hatten nämlich das Glück, eine Wohnung im obersten Stock zu bewohnen. Irgendwo da draußen passierten tausende Geschichten. Tausende Sünden, tausende Ekstasen, tausende Enttäuschungen, tausende Tode. Permanent. Hier herinnen da war es aber ganz still und behütet. Und das Leben in diesem abgeschlossenen Eiland stand ganz im Zeichen unseres Kindes. Im Zeichen einer noch unbeschwerten, unschuldigen Lebensfreude. Hier war es irgendwie rein. Man schlief hier herinnen, man aß, man liebte sich, spielte, tanzte, machte Musik. Es war in gewisser Weise wunderbar, abgesehen von den strengen Charakterzügen Annabells, die in Wellen ausbrachen oder zufrieden schlummerten.
Ich konnte nie genau sagen, in welcher Welt ich eigentlich leben wollte. Wahrscheinlich in keiner der Beiden. Oder in Beiden.
Nach einer Weile bemerkte ich, dass ich auch selber hundemüde war. Außerdem würde ich morgen aufstehen müssen. Arbeiten. In der Informationsindustrie schuften. Ich warf einen Blick in das Schlafzimmer und hörte die Atemgeräusche. Ein Atem war unruhig und schnell, das war der meines Kindes. Der andere war fast nicht zu hören, zurückhaltend, als wollte er den Atem des Kindes nicht stören. Annabell lag im Tiefschlaf und angezogen im Bett. Ich verspürte eine gewisse Erregung und bekam wahnsinnige Lust auf Sex. Ich huschte schnell zu ihr ins Bett und schmiegte mich an sie. Durch meine Küsse lies sie sich schnell in Stimmung bringen und wir schliefen miteinander. Allerdings ganz leise und sanft, da wir das Kind aufwecken sollten.
Ich dankte Gott, dass es so war, wie es war. Und dachte mir, nichts sollte dieses Leben in Gefahr bringen. Als könnte man das Leben einfach abbestellen.